In einer Zeit des Umbruchs, in der Gewissheiten wie die christliche Heilslehre, wie Form und Ausdehnung der Erde oder ihre zentrale Stellung in Gottes Schöpfung bröckeln, ohne dass schon Neues an ihre Stelle tritt, ist die Versuchung groß, entweder Untergangsphantasien oder reinem Vergnügen zu frönen. Von einem Kometen, der das nahe Ende der sündhaften Menschheit verkündet, ist nicht nur bei Martin Luther viel die Rede. Seuchen, die jeden Menschen an seine Sterblichkeit erinnern, grassieren allenthalben, von der Kirche seit jeher als gerechtes göttliches Strafgericht vereinnahmt.
Man kann das Buch also einfach als spannenden historischen Roman von Liebe, Leid und Abenteuer lesen und nebenbei etwas über die gesellschaftlichen Umbrüche der Reformationszeit erfahren. Man kann sich mit seinem Glauben, den Anforderungen der Kirche, den Fragen nach Sinn und Unsinn des Daseins oder der Rolle der Frau im Wandel der Zeiten auseinandersetzen - man kann aber auch Parallelen zum Heute entdecken:
An die Stelle der "raubenden, mordenden Rotten der Bauern" (Martin Luther), die im Namen der Religion ihre Unzufriedenheit mit Feuer und Schwert ausdrücken und von fanatischen Predigern angespornt werden, die notfalls vor Volk ihre Hand buchstäblich ins Feuer legen, treten heute religiös motivierte Gräueltaten anderer selbsternannter "Gotteskrieger" - von gefilmten Enthauptungen über Massenvergewaltigungen bis zur Zerstörung historischer Stätten.
Schwindende gesellschaftliche Sicherheit spüren heute die Menschen der westlichen Welt angesichts steigender Zahlen von Flüchtenden, die als "Ströme" empfunden werden, sowie angesichts wachsender Datenberge, die Sorgen um Kontrollverlust und Auflösung des Individuums in statistischen Messgrößen hervorrufen. Die Krake "Big Data" ist für manche Verheißung, für manche ein neues Gottesgericht, von dem noch zu ergründen ist, wie man ihm entkommt.
Die Chronistin Agnes Pless versichert sich im Schreiben ihrer selbst und ist mit Ersamus überzeugt, dass jeder Mensch einen freien Willen hat und sein Schicksal lenken kann. Dagegen scheinen das heute strapazierte Credo "unterm Strich zähl ich" und die Anstrengung, den eigenen Körper zu vermessen und zu optimieren eher verzweifelte Versuche, die sinnentleerte Welt, in der alles möglich und nichts nötig ist, begreifbar und steuerbar zu machen.
Ob wir im wirklichen Leben mit dem "Internet der Dinge" und dem blutzuckermessenden Wearable tatsächlich eine Wiedergeburt, eine Renaissance erleben, ob wir uns mit Hilfe der KI zum Cyborg optimieren, oder ob wir im Glauben an uns selbst schon vor dem frei gewählten Todesdatum mit auf ewig jung gespritzten Mienen erstarren, wird man noch nicht sicher sagen können. Dass die uralte Mahnung, gelegentlich des Endes zu gedenken, für uns Heutige eine neue Brisanz bekommt, aber schon.